Das Vermächtnis der Nebel
Einst regierte Obolet über ein blühendes Königreich. Sein gerechtes Urteil und sein starker Schwertarm brachten ihm Ruhm und die Liebe seines Volkes.
Nur eine Person stand noch höher in der Gunst der Menschen: seine Halbschwester Araide. Sie war von solcher Anmut und Sanftheit, dass es kaum einen Ritter gab, welcher sich ihr nicht sogleich ohne jedes Zaudern unterwarf, um in ihrem Namen zu streiten. Mag man der Legende Glauben schenken, gab es nie eine Frau von reinerem Edelmut.
Noch heute liegt ihretwegen Wehmut in den Rufen der Greifen, aber vielleicht sollte ich meine Geschichte in früheren Zeiten beginnen lassen …
Kapitel 5 - Die Verbannung
Einer der Ritter, welchem es im höchsten Maße nach Araides Nähe verlangte, war der junge Hadrian. In ihrem Namen hatte er bereits viele Abenteuer bestanden, auch wenn er ihr nie davon berichten durfte. Schwer lag das Schweigegelöbnis auf seinem Herzen.
Hadrian wusste jedoch nicht, dass Araides Auge bereits seit langem auf dem edlen Fenhold ruhte.
Eine weitere Last, welche schwer auf Hadrians Schultern lag, war Familienbande geschuldet. Sein Vater und sein Onkel waren einst gegen Obolets Vater im Zweikampf gefallen. Bereits seit langem sah sich seine Familie als die rechtmäßigen Herrscher des Landes.
Obolet hatte ihm deswegen nie gezürnt oder gar an seiner Treue gezweifelt. Hadrian musste jedoch, in den Stunden, in welchen sein Herz besonders schwer war, hart mit sich ringen und war der Verzweiflung nahe.
Araide schien ihm das Einzige, was diesen Schmerz hätte lindern können, und so beherrschte sie nach und nach all seine Gedanken. Um ihr seine Liebe zu beweisen und die Ritterschaft dennoch nicht zu verraten, versuchte er sie mit Geschenken für sich zu gewinnen.
Als sie für die allerlei weltlichen Kleinodien kein Interesse zeigte, wollte Hadrian die Schöne mit besonders auserlesenen Geschenken für sich einnehmen. So legte er ihr Einhornhörner zu Füßen und schnitzte ihr Geschenke aus Dryaden-Holz.
Jedoch schien jedes seiner Geschenke dazu zu führen, dass sich Araide noch mehr von ihm abwandte. Hadrian fühlte sich durch die Ablehnung zu noch größeren Abenteuern angespornt.
So kam es, dass er der schönen Edeldame eines Tages das Haupt eines weißen Drachen darbrachte. Araides Herz wurde so schwer, dass sie bittere Tränen vergoss.
An diesem Abend richtete sie eine Bitte an ihren Bruder, welche sie beide teuer zu stehen kommen sollte. "Liebster Bruder, ich kann dieses Leid kaum ertragen. Der Ritter Hadrian trägt kein Gut im Herzen. Glaube mir, Bruder, er kennt keinen Edelmut und kein Mitleid. Schicke ihn fort, ich bitte dich, sonst kann ich nimmer glücklich sein." Obolet tat, worum ihn seine Schwester gebeten hatte, und Hadrian musste den Hof verlassen.
Tief gekränkt und voller Wut suchte jener Rat und Trost bei seiner Kusine Karinde. Diese lebte weit im Osten des Landes, an den Grenzen des Barbarenlandes.
Bereits während des Krieges hatte sie die einfallenden Horden unterstützt, hoffte sie doch, dass ihrer Familie endlich der Thron zufiele, wäre Obolet aus dem Weg.
Viele Geheimnisse und dunkle Magie hatte sie von den Hexen der Barbaren gelernt und mit dieser gedachte sie nun die Schmähung und die Schande, welche ihre Familie erneut erdulden musste, zu rächen. "Sei mir versichert, Araide wird dein sein. Jetzt lass mich alleine, ich muss nachdenken."
Nachdem Hadrian den Raum verlassen hatte, begann Karinde unruhig umher zu wandern. Bis spät in die Nacht schmiedete sie Pläne, nur um sie kurze Zeit später wieder zu verwerfen.
Vor Wut und Frustration warf sie Tintenfässer, zerriss Pergamentrollen und raufte sich die Haare. Mit düsteren Gedanken von Rache sank sie erschöpft auf ihrem Arbeitstisch nieder und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war es immer noch dunkel, oder schon wieder? Im Schein einer fast herunter gebrannten Kerze saß ein Vogel, der sie kühl betrachtete. Karinde wollte das dreiste Federvieh bereits verscheuchen, als die Eule einen kleinen Zettel aus ihrem Schnabel fallen ließ.
Nachdem das Tier noch einmal kurz den Kopf schiefgelegt hatte, breitete es seine Schwingen aus und verschwand durch ein offen stehendes Fenster.
Karinde entrollte die kleine Schriftrolle und begann eifrig zu lesen.