Das Vermächtnis der Nebel

Einst regierte Obolet über ein blühendes Königreich. Sein gerechtes Urteil und sein starker Schwertarm brachten ihm Ruhm und die Liebe seines Volkes.

Nur eine Person stand noch höher in der Gunst der Menschen: seine Halbschwester Araide. Sie war von solcher Anmut und Sanftheit, dass es kaum einen Ritter gab, welcher sich ihr nicht sogleich ohne jedes Zaudern unterwarf, um in ihrem Namen zu streiten. Mag man der Legende Glauben schenken, gab es nie eine Frau von reinerem Edelmut.

Noch heute liegt ihretwegen Wehmut in den Rufen der Greifen, aber vielleicht sollte ich meine Geschichte in früheren Zeiten beginnen lassen …

Obolets Vater fiel, noch inmitten seiner vollen Manneskraft, als er mit einer großen Schar seiner Ritter die Landesgrenzen gegen eindringende Barbarenhorden verteidigte. Tiefe Trauer legte sich über das Königreich.

Leande, die treue Königin, schwor aus echter Liebe, nie wieder eines Mannes Nähe zu suchen. Einzig mit drei Edeldamen als Gefolge zog sie sich auf die einsame und abgelegene Burg Derandur zurück. Ihr Schwur ließ das Volk noch größer wehklagen, sah es doch seine geliebte Königin ewiger Einsamkeit ausgeliefert.

Der junge Obolet musste, gerade dem Knabenalter entwachsen, eine große Bürde tragen. Schwer wogen der Verlust des Vaters und das tiefe Leid der Mutter.

Als wäre dies nicht Unheil genug, drangen weiterhin Feinde aus allen Himmelrichtungen in das Land ein, dessen König er nun war. Auch die Feinde im Inneren, dunkle machtbesessene Ritter, welche in der Jugend Obolets eine Schwäche und somit ihren Vorteil sahen, versuchten nach der Krone zu greifen.

Über ein Jahrzehnt verteidigte der junge Regent sein Volk und seinen Thron, doch seine Situation wurde immer aussichtsloser.

Es war ein regnerischer Tag, als ein Bote vor Obolet trat. Dieser saß, in tiefer Niedergeschlagenheit, in einem Lehnsessel in der Kemenate und studierte die Berichte seiner Kundschafter. Nachdem sich der Bote vor seinem Herrn verbeugt hatte, verkündete er, dass zwei Edeldamen in der Burg angekommen seien und dem König ihre Aufwartung machen möchten.

Erfreut über ein wenig Sonnenschein in diesen düsteren Tagen, ließ er die Frauen sofort zu sich bringen.

Bevor die beiden Damen den Raum betraten, kündigte der Bote Lady Thea und Lady Araide an. Thea war eine in Würde gealterte Frau, welche jedoch nichts von ihrer Anmut eingebüßt hatte.

Sofort erkannte Obolet in ihr eine der drei Edeldamen, welche einst seine Mutter nach Derandur begleitet hatten. Auch wenn er am liebsten sofort mit tausend Fragen auf sie eingedrungen wäre, blieb sein Blick wie gebannt auf ihre Begleiterin geheftet.

Die kleine zierliche Gestalt Araides war unter ihrem Mantel und einer Kapuze, welche aus prachtvollen und höchst außergewöhnlichen Federn gearbeitet waren, nur zu erahnen.

Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, die edlen Kreaturen, welche solch ein Gefieder besitzen, jemals zu Gesicht zu bekommen. All jene, welchen dieses Glück zuteilwurde, hätten sofort erkannt, dass es sich um Greifenfedern handelte.

Noch bevor Obolet ansetzen konnte, etwas zu sagen, ergriff Thea das Wort: "Edler König, ich sende Grüße von Eurer Mutter. Jeden Tag beklagt sie Euer beider Verlust. Sie hat mich zu Euch gesandt, um Euch Hoffnung zu bringen, aber auch, um Euch eine weitere Pflicht aufzuerlegen." Ohne zu zögern willigte Obolet ein, könnte er seiner Mutter ohnehin nie einen Wunsch verwehren.

Thea fuhr also fort: "Eure Mutter bittet Euch um Schutz und Fürsorge für die junge Araide. Bevor ich Euch mehr erzähle, soll Euch versichert sein, dass Eure ehrenwerte Mutter ihren Schwur nie brach. Keinen Mann ließ sie je wieder ihre Nähe genießen. Dennoch müsst Ihr wissen, dass Araide Eure Halbschwester ist."

In diesem Moment schlug die junge Edelfrau die Kapuze ihres Umhangs zurück. Jeder Zweifel und alles Unglück Obolets ward von seinem Herzen genommen. Ein Blick in die Augen Araides, welche in einem geheimnisvollen Grün funkelten und trotz ihrer Jugend Weisheit und Sanftmut ausstrahlten, wischte alle Sorgen des trüben Tages hinfort.

Obolet umarmte seine neu gewonnene Schwester und gelobte, ab sofort in ihrem Namen und zu ihrem Schutze zu streiten.

Da sprach Araide zu ihrem Bruder: "Liebster Bruder, nie haben mich Worte mehr erfreut. Aber bedenkt die Worte unserer Mutter: Ich wurde nicht nur als Bürde zu Euch gesandt, ich bringe auch neue Hoffnung. Sobald die Zeit gekommen ist, werdet Ihr erfahren, was es damit auf sich hat."