Das Vermächtnis der Nebel

Einst regierte Obolet über ein blühendes Königreich. Sein gerechtes Urteil und sein starker Schwertarm brachten ihm Ruhm und die Liebe seines Volkes.

Nur eine Person stand noch höher in der Gunst der Menschen: seine Halbschwester Araide. Sie war von solcher Anmut und Sanftheit, dass es kaum einen Ritter gab, welcher sich ihr nicht sogleich ohne jedes Zaudern unterwarf, um in ihrem Namen zu streiten. Mag man der Legende Glauben schenken, gab es nie eine Frau von reinerem Edelmut.

Noch heute liegt ihretwegen Wehmut in den Rufen der Greifen, aber vielleicht sollte ich meine Geschichte in früheren Zeiten beginnen lassen …

Karinde schickte einen Brief an ihre drei Vetter Hadrian, Ferax und Goderon. Sie sollten sich mit prunkvollem Gefolge aufmachen zu Obolets Burg. Es sei so weit, dass ihre Familie den Stand erhalten sollte, den sie verdiente.

Dunkle Fahnen wehten im Wind. Zweihundert Ritter hatten sich unter dem Banner des roten Schwertes versammelt. Auch viele Edeldamen in prachtvollen, tief roten und schwarzen Gewändern begleiteten den Zug.

Gefangene und abgerichtete Greifen waren ihre Wächter, welche von ihren Meistern zu verbitterten und boshaften Kreaturen gemacht worden waren.

Sie führten viel Gold, Diamanten und edle Stoffe mit sich. Jene sollten als Hochzeitsgeschenk für Araide dienen.

Für ihren Vetter Ferax hatte Karinde noch eine besondere Aufgabe. Er sollte ihr den Schweif eines Einhorns und das Blut einer Meerjungfrau besorgen, was dieser mit großem Vergnügen tat.

So zog die dunkle Schar gen Danhost, der Festung von Obolet. Je näher sie kamen, desto mehr wurde Araides Herz von düsterer Vorahnung heimgesucht.

In Fackelschein gehüllt erreichte der Zug Schlag Mitternacht sein Ziel. An seiner Spitze ritten Hadrian, Ferax und Goderon. Freundlich wurden sie von Obolets Gefolge empfangen, wobei so mancher sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte bei den vielen grimmig drein blickenden Rittern und den hochmütig spottenden Damen.

Obolet, Karinde und Araide nahmen die drei Edlen vom roten Schwert persönlich in Empfang. "Araide, was zierst du dich so?" höhnte die zukünftige Königin, "willst du deine Verwandten beleidigen, indem du ihnen den Willkommenskuss verweigerst?"

Hilfesuchend blickte Araide zu ihrem Bruder, welcher jedoch nicht im Sinn hatte, ihr zu Hilfe zu eilen. So blieb ihr nichts übrig, als ihre Gäste mit ihren Lippen willkommen zu heißen.

Als sie zart Hadrians Mund mit dem ihren berührte, packte sie jener und zog sie zu sich heran. Unter wilden Begeisterungsbekundungen seiner Ritter und Edeldamen nahm er sich mehr, als ihm zu diesem Zeitpunkt zugestanden hätte.

Ein heiseres Gackern entsprang Karindes Kehle, während Obolet in Verblendung die offene Liebesbekundung der beiden jungen Leute mit Freude begrüßte.

Unter den Edelleuten von Obolets Hof machte sich indes Entsetzen breit. Viele Edeldamen beklagten das Schicksal der armen Araide, wohingegen in den rechtschaffenden Rittern Wut aufstieg, und so mancher musste sich zügeln.

Im Besonderen der edle Fenhold konnte kaum an sich halten. So ist es nicht verwunderlich, dass Obolet viel Klagen und Bitten der Seinen über sich ergehen lassen musste, welche ihn anflehten, Araide aus ihrer Pflicht zu entlassen.

Aber des Königs Herz war taub und verdunkelt, so dass er anstatt seinen Vertrauten Gehör zu schenken, Verrat und Missgunst in jedem ihrer Worte vermutete.